Die weissen Ebenen

von Annemarie Schwarzenbach

          First published in National-Zeitung, 7 August 1941.

Es war gegen acht Uhr abends, als ich bemerkte, dass der Benzinzeiger meines Fordautos auf Null stand, - aber es schien mitten in der Nacht zu sein. Denn während dieser Jahreszeit setzt die Dämmerung in den Staaten Neu-Englands früh ein, und der Winter ist lang und streng, wenn auch die Schneefälle und eisigen Winde häufig von Perioden lauer, feuchter Wärme unterbrochen werden, die wie verfrühte und trügerische Frühlingserscheinungen wirken. Die eben noch gefrorenen, glatten Strassen brechen auf, ihr dunkler Teerbelag wölbt sich wie eine zum Platzen gespannte Haut, weil Lehm, Kies und Erde darunter aufgequollen sind von dampfender Nässe, und weithin steigt von den teils schneebedeckten, teils bloss vergilbten Wiesen Rauch in hundert zarten Säulen auf. Man wird müde von der langsam dahinwehenden, allzu weichen Luft, und versucht vergeblich, die Augen zu stillen an der Bläue des Himmels, der hinter unsichtbaren, aber das reine Licht dampfenden Schleiern gefährliche Geheimnisse birgt. - Es ist die Müdigkeit eines tropischen Klimas, die man an solchen Wintertagen empfindet, mitten im nördlichen Amerika, - aber sie verschwindet wie ein Spuk über Nacht, ja sogar von einer Stunde zur anderen, - und ein jäh von den Rocky Mountains in die Ebenen des Mittelwestens hinabsteigender, wie Reiterscharen ostwärts fegender Wind lässt das Land zu Stein und Bein gefrieren, oder schwere Schneewolken ziehen von den Wäldern Kanadas südwarts über die Hügel von Maine und New Hampshire bis nach Massachusetts, Connecticut, Vermont, - bis an die Grenzen der Grosstadt New York. Im Nachtwind erstarrt der Schnee beinahe zu Hagel und wird in frostigen Ringen über die Strasse gewirbelt, bis ihre Oberfläche von einer dünnen, knisternden Eisschicht bedeckt ist. Die Scheinwerfer der Automobile gleiten wie über die Spiegelfläche eines künstlichen Schlittschuh-Platzes, der wehende Schnee ersetzt das Wogen von Balletröcken.

In einem solchen nächtlichen Schneesturm war ich gefangen. Ich hatte kein Publikum, - auf beiden Seiten der Landstrasse reihten sich Tannen und Fichten, der Wald schien sehr gross zu sein, und immer dichter zu werden, je weiter in unabschätzbar entfernte Tiefen er nach allen Himmelsrichtungen sich ausdehnte. Es gab offenbar am späten Abend hier wenig Verkehr, ich hielt vergeblich Ausschau nach einem Wagen, der mir entgegenkommen oder mich von hinten überholen würde, und mir vielleicht eine Gallone Benzin abgeben, oder die nächste Tankstation benachrichtigen könnte. Ich hatte keine Ahnung, wie weit in dieser Gegend eine solche Station entfernt sein würde, sonst hätte ich mich vielleicht zu Fuss aufgemacht, obschon auch dieses Unternehmen bei schneidender Kälte und dem atemberaubenden Sturm nicht eben angenehm war. In New York und der engeren Umgebung der Stadt hatte ich es mir während der letzten Monate abgewöhnt, mich um den Stand meiner Benzinuhr zu kümmern, denn dort gab es Tankstationen alle Nasen lang, an jedem Parkplatz und Kreuzungspunkt, - wenn auch nicht gerade im Stadtzentrum. Aber da wieder geriet man nicht in Verlegenheit, weil die Garage, die den Wagen abends abholen liess, auch das Auffüllen von Benzin, Oel und Wasser besorgte, die Reifen kontrollierte, die Windschutzscheibe reinigte, und ab und zu anfragte, ob es recht sei, den Wagen für einen Dollar zu waschen. Ich hatte mich in der Stadt entmündigen lassen, wie ein Gefangener, dem man in der Haft das Geld, die Kleider, die Zigaretten und Streichhölzer abnimmt, sodass er sein freudloses Sträflingsleben ganz sorgenfrei beginnen kann, - und so hatte ich jede rechte Beziehung zu meinem eigenen, kleinen, nicht mehr ganz neuen, aber erprobten und zuverlässigen Ford eingebüsst.

Jetzt stand ich da, vor der geöffneten Motorhaube, und versuchte, noch einmal ein paar Benzintropfen in den Vergaser zu pumpen, - vergeblich. Als ich die Haube schloss, lief ein Fuchs dicht vor dem Wagen quer über die Strasse, und blieb einen Augenblick gebannt vor den Scheinwerfern stehen, das gelbe Licht mit halb zugekniffenen Augen fixierend. Schneeflocken funkelten silbrig in seinem seidig glänzenden Fell, das er wie Gefieder aufgeplustert hatte. Dann duckte er sich, und glitt in das Unterholz, geschmeidig und lautlos. Ich fror erbärmlich, stampfte mit den Füssen, rieb meine Ohren, bis sie brannten, und setzte mich schliesslich wieder in den Wagen. Der Rauch meiner Zigaretten täuschte ein bischen Wärme vor. - “Das ist kein schlimmes Abenteuer” sagte ich mir, - “im Gegenteil, es ist sogar erfreulich, - denn wozu sonst habe ich die Stadt verlassen, dieses Monstrum New York, - wenn nicht, um die Natur wiederzufinden, und das Land wiederzuentdecken, mit dem ich im vergangenen Sommer vertraut und ausgesöhnt gewesen war, das ich aber seither ganz vergessen und ausgelöscht hatte in den lärmenden Strassenkluften und Grosstadtkanälen, die mir so lange die Welt bedeuten mussten! - Jetzt atme ich gleich eine gründliche Prise Wind, lerne wieder den Unterschied zwischen Tag und Nacht, empfinde den bitteren Frost, und werde die Wärme der Morgensonne empfinden, mit welchem Glück! -”

Ich drehte das Fenster herunter, beugte mich hinaus, und hielt aufs’ Neue Ausschau, sah aber nur tanzende Flocken, und die ernsten, dunklen Bäume, deren ausgestreckte Zweige geduldig die wachsende Schneelast empfingen, kaum merklich sich spreizend und biegend. Ich fragte mich, als ich so wartete, während der Wind am knatternden Verdeck riss und an meinen Haaren zerrte und meine Augen brennen machte, - ich fragte mich nachdenklich, ob ich jetzt nicht lieber in New York wäre, in einem warmen Raum, in einer wohlbehüteten Umgebung, unter vielen, zufriedenen, geschützten und gezähmten Mitmenschen. - Ob ich nicht um eine Tasse heissen Tees diese Nachtfahrt in die Wildnis aufgeben und zurückkehren würde in die von eigens dafür bezahlten Strassenkehrern rein und trocken gehaltenen Längs-und Querstrassen, die statt mit Namen versehen, einfach und übersichtlich numeriert waren, - Ob ich nicht die Freiheit dieser Landstrasse, und ihre Einsamkeit, in der ich verloren war, vertauschen würde mit dem Verkehrsnetz, das geplant und geregelt war von Experten, und worin ich nichts zu tun hatte als ein paar einfache Regeln zu folgen, anhalten bei rotem Licht, auf den Gashebel treten bei grünem, und möglichst gleichmässig weiterfahren im 25 Meilen-Tempo, - und auch dies war ungemein erleichtert, weil man niemals allein war, immer in einer Kette, oft einer dreifachen, oft einer zu einer Herde gewordenen, - da durfte man weder aus der Reihe treten, noch plötzlich stoppen oder gar abbiegen, und bald hatte man sich so an dieses Massenverkehrs-System gewohnt, dass wie ein Teil einer Maschine reagierte, und im Schlaf hätte fahren können ohne jemals ein rotes Licht zu übersehen … Ja, ich erinnerte mich, während ich jetzt mit erstarrten Händen den gefrorenen Schnee von meiner Windschutzscheibe rieb, - an den Albdruck des Daseins in den grossen amerikanischen Städten, denn in Chicago war es nicht anders als in New York, nicht viel anders in Boston, Baltimore oder Buffalo. Und obwohl ich fror, und gern ein Licht gesehen, einen Menschen erblickt, ein Herdfeuer gefunden, den Duft einer dampfenden Suppe gerochen hätte, - so erinnerte ich mich doch an die langen Monate in der Stadt wie an eine lange, in einem von Schmerz genährten Fiebertraum verbrachte Gefangenschaft. - Ja, dort konnte man alles haben, wenn man sich nur vorschriftsmässig zu benehmen wusste, und den Normen eines Gesetzes entsprach, das eine anonyme, aber gewaltige Macht ausübte. Die Tyrannis der Städte war wie die zusammengeballte und dann umso grausiger und absoluter herrschende Tyrannis einer Zivilisation, die einmal anhob und wuchs zur Forderung und Erhebung des Menschen, und dann selbsttätig wurde, den Menschen erniedrigend und missbrauchend, der ihren allgewaltigen Formeln und Vorschriften noch sein Bestes, die freiwillige Disziplin seines freien, verantwortlichen Gewissens, vergeblich und immer vergeblich entgegensetzte. - Und statt freiwillig und gern in einer stolzen, freien, opferwilligen Gesellschaft zusammen zu leben, lebten sie nun, die Städter, in Massen und Herden, doch jeder für sich allein. Denn schon zu viel Bruderliebe oder gar Gemeinsamkeit, oder gar Mitleid, zu zeigen, kam teuer zu stehen, - darum kümmerte sich ein jeder um seine eigenen Affären, betrog vorteilsüchtig die Fremden, und hielt nur noch die Spielregeln des gesellschaftlichen, wohl organisierten Zusammenlebens ein, - und auch dieses nur aus Gewohnheit, um nicht mit dem Gesetz und der Polizei in Konflikt zu geraten, und weil es so bequemer und so üblich war.

Ich hatte in der letzten Zeit in Amerika viele Gefängnisse gesehen, und viele den Kranken oder der Wohltätigkeit gewidmeten Anstalten. Ich hatte den Aufruhr verzweifelter Gefangener gesehen und ihre Schreie gehört, die bald erstickten, weil sie doch machtlos verhallten, und gegen die Vorschriften verstiessen, also neue Strafen und neue Qualen mit sich brachten. Und ich hatte wohl gesehen, wie in solchem Elend, alles Stolzes und aller Verantwortung entkleidet, Männer und Frauen und sogar Kinder sich alle Regungen der Menschenfreundlichkeit und der liebenden Sehnsucht abgewöhnten, wie sie misstrauisch in ihrer Ecke kauerten, jeder für sich, und wie sie bald abgehärtet wurden, den Schrei und die Tränen ihres Bruders neben sich nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen …

Gefangen im Verkehrsnetz der Grosstadt, gefangen in einem das Dasein bis in alle kleinsten Handlungen beherrschenden Netz aus Gesetz, Gewohnheit und Konvention, hatte ich das Leben wie ein Abbild jener krasseren Gefangenschaften empfunden, - oder waren vielmehr nicht diese das Zerrbild jener Daseinsformen, die mich mit Panik erfüllten und bleiern lähmten?

Ich war mit meinen Überlegungen fertig, und auch am Ende mit meinem Vorrat an Zigaretten. Da öffnete ich die Wagentüre, und lauschte jetzt nur auf den Wind, hielt nur nach Neujahrssternen Ausschau. Ich stellte mir vor, dass ich irgendwann am nächsten Morgen das Ende dieses Waldes erreichen würde, heissen Kaffee bekommen in einem weissen oder ziegelroten Farmhaus aus Holz, oder in einer ländlichen Herberge, - und dass ich weisse Ebenen finden würde, die Weite von schneebedeckten Äckern und Weiden. Und ich atmete tief vor Glück.

Ein wenig später sah ich Scheinwerfer auftauchen. Es war ein schwerer Lastwagen der amerikanischen Armee, dessen mit pelzgefütterten Mutzen ausgestattete Mannschaft meinen kleinen Ford ins Schlepptau nahm bis zur nächsten, fünf Meilen entfernten Benzinstation …

White Plains

translated by Padraig Rooney

Around eight o’ clock in the evening I noticed my Ford running on empty. Deep night beyond the windscreen. At this time of year, the sun sets early in New England and the hard winter throws up unrelenting blizzards and nor’easters, punctured by patches of mild damp air that give the illusion of early spring. The iced-over roads crack; blacktop tightens like a skin about to erupt; the clayey-gravelly earth swells with moisture, and way across the dirty-yellow, snow-covered plains frail smoke signals rise. Worn down by this undulating comforter of snow, the driver vainly searches out the blue of the sky, mist shrouding the clear New England light, giving it an ominous cast. These winter days a tropical drowsiness crosses the great plain like a miasma, dissipating with daybreak or within an hour. A blizzard barrels down out of the Rockies across the midwest, pushing east like a posse and bringing a stone-splitting cold to the whole coast. At times snow-laden clouds move south out of the Canadian wilderness, crossing Maine and New Hampshire hills, moving into Massachusetts, Connecticut, Vermont, and dumping on the boroughs of New York. Overnight, picked up by blasts of cold air, snow turns to hail and icy whirlwinds, blanketing the streets with crackling ice. Headlights slide like skaters on an ice-rink. Snow in the wake of cars falls like the swirl of a tutu.

I was caught in just such a snowstorm. Nobody about. Pines and fir trees stood to attention on both sides of the road and the forest seemed endless, impenetrable, stretching into the wilderness. At this late hour there was little traffic. I scanned in vain for an oncoming car or one behind that might let me have a gallon of gas or inform the nearest service station of my plight. I hadn’t the faintest idea how far it was, otherwise I would have headed off on foot even though the biting cold and the violent storm made that an unpleasant prospect. Driving around New York and its outlying boroughs in recent months, I had lost the habit of checking the gas because there were pumps at every corner, next to car parks, at junctions, except for downtown. But there, on the other hand, one was rarely caught short because the garage where I parked each evening checked the level of the gas, oil and water, verified the tires, cleaned the windscreen, and every now and again asked if it was ok to clean the car for a dollar. I’d let the city take over me, like a prisoner handing over loose change, her clothes, cigarettes and matches, and checking blithely into her cell — that’s how far I had distanced myself from my own little Ford roadster, no longer new but serviceable, still roadworthy.

And here I stand under the raised hood, trying one more time to pump a few drops into the carburetor — in vain. As I lowered it a fox crossed the road and paused a moment in my headlights, tranced, staring into the yellow glare with narrowed eyes. Snowflakes sparkled in the silvery sheen of his luxurious pelt, hackles up like a bird’s puffed plumage. Then just as quick he slipped back into the underbrush, agile and noiseless. I was frozen to the core, stamping my feet, rubbing my ears until they smarted, and got back behind the wheel. Cigarette smoke gave off a frail illusion of heat. It’s not a disaster, I reminded myself, but a godsend. After all, why had I quit the Moloch of New York if not to reconnect with nature, to rediscover the countryside I had appreciated last summer, had let slip since, scrubbed from memory in the bustle of the city’s canyons and super-highways which I was now obliged to think of as the whole world. Now at last I would be able to breathe clean air, tell day from night, feel the cold’s bite, and anticipate the warmth of the morning sun.

I rolled down the window and leaned out, once more checking the road, but there was only whirling snow, dark trees standing to attention, their branches patiently weighed down, splayed, by the accumulating burden of snow. As the wind rattled the hood, stood my hair on end and made my eyes smart, I conjured up a well heated New York room, cozily appointed with well-to-do people, immune, civilized. For the price of a cup of hot tea I would abandon this nocturnal cross-country flit and head back to the grid of streets and avenues, cleared and cleaned by the municipality, streets without name but identifiable by simple numbers. I would swop the freedom of this country road and the solitude in which I was lost for the well planned, expertly laid out metropolis where all I had to do was conform to a few basic rules: stop at red, accelerate on green, drive steady at twenty-five miles an hour, borne forward in lane, often in three lanes, the herd instinct. Impossible to change lane, stop abruptly or turn. One quickly adjusts to driving en masse, to reacting like a cog in a machine. You could carry on driving in your sleep without ever burning a red light. Sweeping the snow from my iced-up windscreen with numbed hands — the nightmare of these big American cities came back to me, with no real difference between, say, Chicago and New York, and hardly any between Boston, Baltimore or Buffalo. And despite the cold and longing for headlights or any glimmer of a human being, I longed to find myself by an open fire cradling a bowl of steaming soup; of course, I didn’t stop straining to hear or staring into the whirling snow in search of a distant light, an approaching vehicle. Anyhow, when I went over again the months spent in the city, they seemed like a long prison sentence — delirious, insufferable. Of course, the city provides as long as you obey the rules, conform to laws laid down by some anonymous potentate. Oppressive cities concentrated the greater power of the civilizations that produced them, all absolutely cruel, born of the urge for progress and human dignity; mechanized, their raw material exploited human beings holding out for something better — freedom of choice? — against the city’s all-powerful strictures and rules. And instead of pulling together in harmony, proud and free, ready to sacrifice, the mass of citizens end up subsisting hand-to-mouth. Dog eat dog. The simple fact of showing too much common purpose, or even solidarity, or even pity, costs dearly. That’s why it’s every man for himself, pulling one over on the competition, playing by the rules of the game — and all becomes subterfuge so as not to fall foul of law and order, and because it’s convenient and has always been so.

Of late I had observed in America a good few prisons and institutions for the sick or those on welfare. I heard desperate prisoners riot, shouts soon muffled by the powers that be, prisoners caught up in a cycle of reprisal, punishment and fresh torment. I had seen miserable men, women and even children stripped of all dignity and sense of responsibility, lose humanity and trust: they kept to their corner, every one for himself, fast becoming immune to the cries and tears of their brothers in arms beside them.

Regimented by the highway code, kept on the straight and narrow by laws, habits and conventions that regulate existence in even its most minor detail, I feel life had become a prison. Or were those institutionalized people really only traumatic caricatures, weighing me down like sheet lead?

Having come to the end of my line of enquiry and my cigarettes, I opened the car door and began to listen to the whistle of the wind, to look at the stars. I imagined in the morning I would reach the edge of the woods and would be handed a fine hot coffee in a white-frame or brick-red farmhouse, in a country inn, and that I’d discover the vast white plains stretching away — fields and pastureland blanketed by snow. I sighed deeply with happiness.

A bit later, headlights approached. It was a big American army truck whose passengers, under fur hats, hitched my little Ford to the next service station, eight miles further down the road.

 

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